Werden Kinder im Alter von 5-7 Jahren tatsächlich zunehmend entwicklungsgestört und therapiebedürftig, wie es aus aktuellen Berichten hervorgeht (vgl. AOK Heilmittelbericht 2018; vgl. Bildungsberichtserstattung 2018)? Oder gibt es möglicherweise andere Erklärungen für diesen erhöhten Anstieg der letzten Jahre? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der Kurzreportage „Bin ich ein normales Kind?“.
Eine erste Fährte zur Beantwortung der Fragen wird von der phänomenologischen Erziehungswissenschaft gelegt, die eine andere Erklärung für den starken Zuwachs an vermeintlich behandlungsnotwendigen Kindern liefert. Sie sieht die Ursache nicht bei den Kindern. Stattdessen werden die vorherrschenden nicht-pädagogischen Normen für die frühkindliche Bildung in frühpädagogischen Instituten als ausschlaggebend für die Situation betrachtet. Auch erste Interviews mit Eltern und Erzieher_innen, Einblicke in Beobachtungsberichte sowie in Beobachtungsbögen bestätigten diese Perspektive.
Im Zuge dieser Recherchen kam zum Vorschein, dass kindliche Entwicklung in der frühpädagogischen Praxis zu einem Großteil an entwicklungspsychologischen Normen „bemessen“ und bewertet wird. Entwicklungspsychologische Normen sind grundsätzlich mit Altersvorgaben verbunden und beinhalten keine erziehungswissenschaftlichen Perspektiven auf Erziehung, Bildung und Lernen. Die Individualität und der jeweilige Erfahrungshorizont des einzelnen Kindes werden darin ebenfalls ausgeschlossen. Dadurch kann es zu vermehrten Normabweichungen seitens der Kinder kommen, auf welche mit Pathologisierung und Normalisierung reagiert wird. Der kurz skizzierte außerpädagogische Umgang mit kindlicher Entwicklung in frühpädagogischen Institutionen könnte somit eine Erklärung für die ausgewiesene hohe Steigerungsrate an Kindern mit zugeschriebenen Therapiebedarf darstellen. Demnach würden weitaus weniger Kinder behandlungsbedürftige Schwierigkeiten in ihrer Entwicklung aufweisen, als die Statistiken zeigen.
Der filmische Beitrag möchte mit seinen Protagonist_innen auf diese Schieflagen der Frühpädagogik aufmerksam machen, die nicht selten Spuren bei den Kindern hinterlassen. In der Kurzreportage kommen vier Akteure des Feldes der frühen Kindheit zu Wort: eine Großmutter eines betroffenen Kindes, eine Erzieherin, die Weiterentwicklerin der „Kuno-Bellers Entwicklungstabelle 0-9“ Dr. Simone Beller sowie der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Malte Brinkmann.
Der Inhalt des Beitrages wurde gemeinsam mit Jeremy Lacher und Dank aller Beteiligten im Rahmen einer Kooperation zwischen dem MIZ Babelsberg und der Humboldt-Universität zu Berlin filmisch umgesetzt.

Nancy Weiss (HU Berlin)