Exzerpte aus der in Kürze erscheinenden Neuauflage von:
Günter Buck – Lernen und Erfahrung

Erfahrung bedeutet hier nicht Lernen als ein bloßes Kennenlernen, sondern als ein Dazulernen. Und dieses wiederum ist nicht ein bruchloses Anfügen von Kenntnissen, sondern wesentlich ein Umlernen. Die eigentlich belehrenden Erfahrungen sind diejenigen, bei denen man, wie man sagt, Lehrgeld bezahlt, d.h. die sogenannten negativen. Daran, dass die „negativen“ Erfahrungen dennoch belehrend, d.h. gerade „positive“ sind, zeigt sich am besten, dass man die Erfahrung noch gar nicht eigentlich „gemacht“ hat, ehe man aus ihr lernt. Man muss seine Erfahrungen schon so machen, dass man aus ihnen lernt. Der Unbelehrbare ist nicht einer, der nichts dazulernt, obwohl er Erfahrungen macht, sondern einer, der keine Erfahrungen macht, obwohl ihm so manches passiert

(Buck 2017, S. 23).

Denn zu jenem Erfahrungsbegriff gehört gerade die Einsicht in die Bedeutung der negativen Instanzen […]. [Husserl bestimmt] die negative Erfahrung als Enttäuschung (einer Erwartungsintention) […]. „Enttäuschung“ ist keine Charakteristik, die in passender Weise beschriebe, was geschieht, wenn z.B. eine Hypothese durch das Experiment falsifiziert wird. […] Enttäuschung charakterisiert das lebensweltliche Erfahrungsgeschehen und besonders diejenige Erfahrung, die wir Lebenserfahrung nennen. Husserl sagt einmal, wir seien von der negativen Erfahrung „persönlich betroffen“ (Husserl 1939/148, S. 351). Darin steckt ein Hinweis auf den geschichtlichen Charakter dieser Erfahrung. Eine Erfahrung, durch die man persönlich betroffen wird, richtet sich nicht nur auf einen Gegenstand, mit dem es sich anders verhält, als man geglaubt hat. Sie ist eine Erfahrung, die man vorzüglich über sich selbst macht, auch wenn es Dinge oder Menschen sind, die anders sind, als man erwartet hat. Deshalb verhält man sich auf Grund einer solchen Erfahrung nicht nur zu den Dingen und Menschen, sondern vor allem zu sich selbst in neuer Weise. Die Enttäuschung ist ein positives Moment in der Geschichte des Erfahrenden. Nicht nur der vermeinte Gegenstand, sondern unser Erfahrenkönnen selbst wandelt sich.

(Buck 2017, S. 85).

Die negative Erfahrung ist dasjenige Lernen, von dem Nietzsche bemerkt, es erhalte uns nicht bloß, sondern verwandle uns. Nicht nur der Gegenstand der Erfahrung stellt sich anders dar, sondern das erfahrende Bewußtsein selbst kehrt sich um. Das Werk der negativen Erfahrung ist ein Sich-seiner-bewußt-Werden. Wessen man sich bewußt wird, das sind die in der seitherigen Erfahrung leitenden und als leitende unbefragt gebliebenen Motive. Die negative Erfahrung hat so primär den Charakter der Selbsterfahrung, die frei macht für eine qualitativ neue Art der Erfahrung.

(Buck 2017, S. 64).

Literatur:
Günther Buck (2017, im Erscheinen): Lernen und Erfahrung. Epagoge, Beispiel und Analogie in der pädagogischen Erfahrung. (Neuauflage), hg. v. Malte Brinkmann. Band 5 der Reihe „Phänomenologische Erziehungswissenschaft“. Hrsg. v. Brinkmann, Malte/Lippitz, Wilfried/Stenger, Ursula. Wiesbaden: Springer VS.

Husserl, Edmund. 1939/1948. Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Herausgegeben von Ludwig Landgrebe. Prag.

Schenk, Sabrina/ Pauls, Torben (Hrsg.) (2014): Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn: Ferdinand Schöningh.