Monat: Dezember 2016

Eugen Fink – Die Fragwürdigkeit des modernen Erziehers

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(Eugen Fink und Edmund Husserl, Bild mit freundlicher Genehmigung des Philosophischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Exzerpt aus: Eugen Fink – Die Fragwürdigkeit des modernen Erziehers, in: Die deutsche Schule, Berlin/Hannover/Darmstadt, Heft 4 1959, S. 149-162.

Rat und Halt, Form und Verfassung gewinnt das menschliche Dasein in jenem fundamentalen Geschehen, das „Erziehung“ heißt. Der Mensch ist a priori ratlos und haltlos, formlos und ungefasst. Das imperfekte Lebewesen allein kann und muss sich in Form und Verfassung bringen. Erziehung wendet die Grundnot unseres Daseins. Erziehen und erzogen werden kann nur ein nothaftes Geschöpf. (…) Der Mensch lebt im verstehenden Selbstumgang: er verhält sich zu seinem eigenen Dasein und zum Sein alles Seienden überhaupt. Solches Selbstverhältnis ist aber keine Folge etwa des „Bewusstseins“, ist keine bewusstseinsmäßige Reflexivität, sondern eine viel ursprünglichere und spannungsreichere Existenzstruktur. Der Mensch ist sich „aufgegeben“, er muss werden, was er ist, muss sein Wesen suchen und verwirklichen. Dieses Müssen ist kein mechanischer Zwang, es ist eine existentielle Not. Die Imperfektheit unseres Lebens besteht nicht objektiv nur, sie ist vor allem gespürte, erfahrene und erlittene Unvollendung. (…)

Das bedeutet aber ein gewichtiges Fragezeichen an der Grundthese der abendländischen, von der Metaphysik bestimmten Anthropologie, die den Menschen als das Zwischenwesen zwischen Tier und Gott ansetzt. Wir sind das imperfekte Seiende in einem Weltall, das sonst von perfekten Dingen und Lebewesen erfüllt ist; wir sind kosmisch eine Ausnahme und ontologisch ein Paradox. Der Selbstumgang des Menschen besagt aber nicht, wie man vielleicht meinen möchte, eine Selbstbezüglichkeit des einzelnen Individuums nur auf sich selber. Die Unterscheidung von „Ich“ und „Du“ setzt seinerseits schon das Selbstverhältnis des Daseins voraus. Es ist ein Missstand der üblichen pädagogischen Theorien, dass sie naiv ansetzen bei der Relation zwischen Erzieher und Zögling. Woher kommt denn dieser Bezug? Woher kommt denn das Interesse des Erziehers an seinem Zögling? Sind Ich und Du, Wir und die anderen gegebene Tatsachen der Sozialwelt? Genügt es, sie aufzuzeigen – oder muss eine grundsätzliche Besinnung die pädagogische Bedeutung der sozialen Bezüge erst einmal als Problem erfahren und erörtern?

Die Internationale Eugen Fink-Forschungsstelle für phänomenologische Anthropologie und Sozialphilosophie am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat einen lesenswerten Beitrag zur Biographie Eugen Finks veröffentlicht, diesen finden Sie hier.

Auf der Hauptseite des Ophen Blogs findet sich darüber hinaus eine umfangreiche Bibliographie Eugen Finks: Eugen Fink auf Ophen.org.

Call for Papers: 4. Symposion zur phänomenologischen Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

Vom 18. – 20. September 2017 findet das 4. Symposium zur phänomenologischen Erziehungswissenschaft im Festsaal der Humboldt-Universität, Luisenstraße 56, 10115 Berlin, unter dem Titel „Leib – Leiblichkeit – Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes“ statt. Weitere Informationen sind dem Call for Papers zu entnehmen.

Den gesamten CfP Text finden sie auf der Website der Abteilung für Allgemeine Erziehungswissenschaft der HU (als pdf hier).

Phänomenologische Erziehungswissenschaft

Phänomenologische Erziehungswissenschaft als traditionsreiche Teildisziplin kann auf eine fast hundertjährige Geschichte zurückblicken, in der sie sich als ein mittlerweile selbst weiter ausdifferenzierter Teilbereich der Erziehungswissenschaft etablierte. Phänomenologische Ansätze und Orientierungen finden sich heute in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Rehabilitationspädagogik, in der Kindheitsforschung, der ästhetischen und kulturellen Bildung, in der Erwachsenenbildung, in unterschiedlichen Fachdidaktiken und anderen (Teil-)Disziplinen der Erziehungswissenschaft. Phänomenologische Erziehungswissenschaft hat international eine weite Verbreitung gefunden.

Von Anfang an werden die Kernthemen von Husserls Phänomenologie – Intentionalität, Zeit, Leib, Welt, Anderer – systematisch mit den Theorien und Ansätzen der Erziehungswissenschaft in Bezug gesetzt. Über die Zeit hat die phänomenologische Erziehungswissenschaft zunehmend einen eigenständigen Zugriff auf Bildung, Lernen und Erziehung als Erfahrungen entwickelt. Phänomenologie als Philosophie der Erfahrung versucht, Erfahrung im Vollzug in ihren temporalen, korporalen, sensualen und mundanen Dimensionen zu erfassen. Der phänomenologische Erfahrungsbegriff wird für pädagogische Zusammenhänge um die Dimensionen der Generationalität und Natalität, Leiblichkeit und Verkörperung, Sozialität und Alterität (Fremdheit) erweitert. Damit werden die Prozesse in den pädagogischen Erfahrungen deskriptiv beschreibbar und analytisch fassbar gemacht. Auch die Methodologie und die Operationen, deren sich die phänomenologische Erziehungswissenschaft bedient – Deskription, Reduktion und Variation – sind genuin phänomenologisch.

Mit der differenzierten Analyse pädagogischer Erfahrungen und methodologisch-kritischen Einsätzen hat die Phänomenologische Erziehungswissenschaft ein eigenständiges theoretisches und methodologisches Profil entwickelt, das sich von anderen Zugängen unterscheidet.

Der Beitrag setzt sich aus folgenden Veröffentlichungen zusammen:

Brinkmann, Malte. 2011. Pädagogische Erfahrung – phänomenologische und ethnographische Perspektiven. In Orte des Empirischen in der Bildungstheorie. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft II, hrsg. Ines Maria Breinbauer und Gabriele Weiß, 61–80. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Brinkmann, Malte. 2015. Pädagogische Empirie. Phänomenologische und methodologische Bemerkungen zum Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis. Zeitschrift für Pädagogik 61 (4): 527–545.
Brinkmann, Malte. 2017. Phänomenologische Erziehungswissenschaft. Ein systematischer Überblick von ihren Anfängen bis heute. In Pädagogik – Phänomenologie. Verhältnisbestimmungen und Herausforderungen, hrsg. Malte Brinkmann, Marc Fabian Buck, und Severin Sales Rödel, 17–46. Wiesbaden: Springer VS.