Monat: Juni 2017

Beginn der Phänomenologischen Erziehungswissenschaft

Aloys Fischer (1880-1937): „Deskriptive Pädagogik“ (1914)

„Die Grundfrage aller Deskription lautet, was ein [in der Erfahrung; MB] Gegebenes sei. Alle Pädagogik und alle Richtungen der Pädagogik reden von Erziehung […]; jede Richtung glaubt, die so bezeichneten Tatsachen genau zu kennen, und schickt sich dann sehr schnell an, zu sagen: Was und wie die Erziehung sein soll. […] Nicht der Sinn der Worte, das heißt die Verdeutlichung der sprachlichen Meinung, sondern die Beschreibung des gemeinten Etwas ist die aller Forschung zugrundeliegende, sogar die Fragestellung erst ermöglichende Aufgabe der Wissenschaft.“ (Fischer 1914/1961, S. 144, Hervorhebung im Original)

Fischer ist ein Vertreter der phänomenologisch orientierten Münchner Schule um Theodor Lipps. Er gilt als Allgemeiner Pädagoge und Pionier der Bildungsforschung. Die Münchener Phänomenologen um Theodor Lipps kamen ab 1902 in Kontakt mit dem damals in Göttingen lehrenden Husserl. Husserls „Logische Untersuchungen“ wurden kritisch für psychologische und pädagogische Fragestellungen rezipiert. Die phänomenologische Deskription wird von Fischer erstmalig als ein Verfahren der intersubjektiven Prüfung von Erfahrungen und Erlebnissen eingesetzt.

Damit erhält die Deskription eine methodologische und gegenstandskonstitutive Funktion für die Pädagogik. Sie kann, so Fischer, „Gegebenes und Letztes“ (Fischer 1914/161, S. 143) aufweisen. Nach dem Durchgang durch die phänomenologische Reduktion (ebd., S. 147) kann Deskription eine „theoriefreie“ (ebd., S. 142), voraussetzungslose und damit vorurteilsfreie Beschreibung garantieren. Fischer zeigt in seinen psychologischen, sozial- und schulpädagogischen Arbeiten die Fruchtbarkeit dieser Methode.

Fischers Real-Ontologie, der Formalismus seiner Methodologie sowie die damit verbundene Reduktion der phänomenologischen Methode auf Deskription wurde später oft kritisiert, weil er Pädagogik auf eine Tatsachenwissenschaft reduziert und die normativ-wertenden Aspekte auch seiner eigenen Untersuchungen nicht erkannt hat. Nichtsdestoweniger spielt Fischer eine bis heute wichtige Rolle für die wissenschaftliche und empirische Pädagogik. Die Frage nach der Deskription und nach dem Gegenstand der Pädagogik gehört nach wie vor zu den wichtigen Fragen der Pädagogik.

Originaltext:
Fischer, Aloys (1914/1961). Deskriptive Pädagogik. In T. Rutt (Ed.), Aloys Fischer. Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn: Schöningh, S. 137-154.

Weiterführende Literatur:
Lippitz, Wilfried (2010): Aloys Fischer (1880-1937). ‚Deskriptive Pädagogik‘ oder ‚Prinzipienwissenschaft von der Erziehung‘. Zu den Anfängen phänomenologischer Forschungen in der Erziehungswissenschaft. In: Brinkmann, M. (Hrsg.): Erziehung. Phänomenologische Perspektiven. Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 23–38.

Brinkmann, Malte (2016): Phenomenological research in education. A systematic overview of German phenomenological pedagogy from the beginnings up to today. In: Dallari, M. (Hrsg.): Encyclopaideia. Journal of phenomenology and education, vol. 20, no 45, S. 96-114 (Online access: https://encp.unibo.it/).

Brinkmann, Malte (2017): Phänomenologische Erziehungswissenschaft. Ein systematischer Überblick von ihren Anfängen bis heute. In: Brinkmann, Malte/Rödel, Sales Severin/Buck, Marc Fabian (Hrsg.): Pädagogik – Phänomenologie. Phänomenologie – Pädagogik. Verhältnisbestimmungen und Herausforderungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 17-46. (Online access: http://www.springer.com/de/book/9783658157425#otherversion=9783658157432)

Bild: https://www.tlu.ee/opmat/ka/opiobjekt/KAV6001/pedagoogikateadlased_kutsepedagoogikas/aloys_fisher.html

4. Internationales Symposion Phänomenologische Erziehungswissenschaft – HU Berlin

Das Programm für das diesjährige Symposion unter dem Thema Leib – Leiblichkeit – Embodiment: Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes, ausgerichtet von Malte Brinkmann an der Humboldt Universität zu Berlin, ist veröffentlicht. Sie finden das Tagungsprogramm direkt hier.

Die Tagung findet vom 18.-20. September 2017 statt, auf der Website der Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft der HU finden Sie Informationen zur Anmeldung und das Anmeldeformular.