Ein Tisch, ein Glas, eine Stimme, eine Melodie, eine Berührung, eine Schwierigkeit, eine Überraschung oder eine Stimmung beim Lernen, eine Erfahrung im Erziehen, beispielsweise zwischen Eltern und Kind – das sind Themen, mit denen sich phänomenologisches Philosophieren und phänomenologische Erziehungswissenschaft beschäftigen. Es sind Phänomene, die sinnlich und leiblich wahrgenommen und erfahren werden und in die man auf je individuelle und zugleich intersubjektive Weise verwickelt ist. Zu den Sachen selbst – dieser Losung Husserls, dem Begründer der modernen Phänomenologie, fühlen sich Phänomenologen verpflichtet. Phänomene „zeigen sich“. Sie sind keine festen Tatsachen oder objektive Gegebenheiten, sondern sie erscheinen uns als etwas im Modus der Intentionalität. Die Formel etwas als etwas bedeutet, dass etwas (Tatsächliches, Mögliches oder Unmögliches) mit etwas anderem verbunden (einem Sinn, einer Bedeutung) und gleichzeitig davon getrennt ist (vgl. Waldenfels 2011, S. 21). Etwas erscheint in der Intentionalität als nah oder fern, fremd oder vertraut, im Gedächtnis, im Geschmack, in der Berührung oder im Blick. Eine Bedeutungspluralität entsteht entsprechend der eigenen Position, dem Interesse und Kontext und im Einklang mit räumlich-zeitlichen, intersubjektiven und (im)materiellen Strukturen.

Viele Phänomenologen verstehen Phänomenologie als die Erforschung und Theorie der Erfahrung. Nach Husserl findet Erfahrung zwischen aktiver Sinnbildung und passiver Wahrnehmung von Sinn statt. Sie entsteht also durch eine aktive Passivität und eine passive Intentionalität. Intentionale Wahrnehmung, die sich auf Phänomene richtet und in der sich im intentionalen Akt ein je individueller Sinn bildet (Noesis), ist auf das angewiesen, was sich in der Wahrnehmung zeigt (Noema). Diese Passivität in der Wahrnehmung und Erfahrung ist für phänomenologische Analysen ein wichtiger Ausgangspunkt. Sie betonen also nicht nur die Verfügungskraft, sondern auch die räumlichen, zeitlichen und leiblichen Bedingtheiten und Begrenztheiten menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Erfahrung wird daher nicht als fertiges Produkt oder als Output, sondern als Prozess gesehen. Die „Bruchlinien der Erfahrung“ (Waldenfels 2002) zeigen sich in ihren widerständigen Momenten. Diese sind in Unzuhandenheiten (Heidegger), in Widerständigkeit oder in Widerfahrnissen (Waldenfels) ebenso zu sehen wie in Mühen, Last, im Schmerz oder in der Enttäuschung (Husserl), in Irritationen, Nicht-Wissen, Nicht-Können (Buck 1989) oder in Krisen (Bollnow). Sie kommen als lebensweltliche, interkorporale und intersubjektive Prozesse in den Blick, die durch Differenzen, Brüche und Fremdheitserfahrungen (Waldenfels 2002) gekennzeichnet sind.
Die Phänomenologie geht von konkreten lebensweltlichen Erfahrungen aus, weil Phänomene der Lebenswelt historisch und systematisch früher auftreten als ihre wissenschaftlichen Konzeptionalisierungen und Methodisierungen. Diese primordialen „stummen“ Erfahrungen sind zunächst präverbal, prädiskursiv und präreflexiv (Hua I, S. 77). Phänomenologische Reflexion versucht in ihren Analysen die jeweils andere Erfahrung nicht zu okkupieren oder zu kolonisieren, sondern respektiert ihre jeweils andere Artikulationsweise.
Husserls Gedanken bilden die Grundlage für Heideggers hermeneutische Phänomenologie des Daseins, Sartres Existenz-Philosophie, Merleau-Pontys Philosophie der Wahrnehmung und des Leibes, für Levinas’ Ethik des Anderen, für Plessners Anthropologie der Sinne und der Exzentrizität und für Polanyis Theorie des impliziten Wissens. Die Phänomenologie hat großen Einfluss auf die kontinentale Philosophie, zum Beispiel jene von Foucault, Derrida, Waldenfels, Ricœur und Nancy. Sie ist aber auch in anderen Wissenschaften auf fruchtbaren Boden gefallen, beispielsweise in der Soziologie, in der Ästhetik, in der Kunst- und Bildtheorie, in der Anthropologie, in der Kunst- und Literaturwissenschaft, sowie in der Psychologie, Psychiatrie und in den Neurowissenschaften.
Die Orientierung an der Lebenswelt privilegiert, im Unterschied zu kognitivistischen und rationalistischen Konzepten, den Leib als elementare Erfahrungsdimension im Lernen und Erziehen. Schon Husserl bestimmt den Leib als „Nullpunkt aller Orientierungen“ (Hua IV, S. 158). Auch die Nachfolger Husserls, vor allem Merleau-Ponty und Plessner, heben die Doppelstruktur von Körper und Leib hervor. Er ist einerseits Körperding, d.h. er kann als Objekt und Ding vergegenständlicht werden (z.B. im Krankenhaus, in der Gentechnik). Andererseits ist er Leibkörper. Er ist Medium unserer Welt- und Selbsterfahrung. Der Leib produziert Bedeutungen und schafft Werkzeuge, er deutet „praktisch“ und produktiv die Welt. Im prädiskursiven, „primordialen“, lebendig-leiblichen Handeln drückt er sich aus, in symbolisierenden Bewegungsrhythmen und in werkzeughaften Kulturumwelten. Wir erfahren dann den Leib als Medium unserer Wahrnehmung. Nur im und durch den Leib wird Hier und Jetzt, Oben und Unten, Rechts und Links, Früher und Später erfahrbar. Dabei erfahren wir immer etwas bedeutungshaft und in einer Perspektive. Der Leib erscheint immer als etwas bestimmtes, als schön, dünn, begehrenswert usw. Wenn der Leib in unserer Aufmerksamkeit jeweils als etwas erscheint, dann erfahren wir ihn nicht nur als Körper, sondern auch als Leib, als Phänomen. Deshalb ist er nicht als Ding unter anderen Dingen zu betrachten. Er ist kein Stein oder Stuhl. Er ist vielmehr eine „Umschlagstelle“ (Hua IV, S. 286) zwischen dem Selbst und der Welt. Die “Embodied Cognition Theory” (ECT) macht diese phänomenologischen Einsichten zum Leib fruchtbar für eine neurowissenschaftliche Theorie von mind, brain and attention (S. Gallagher, N. Depraz). Die Bevorzugung lebensweltlicher und leiblicher Erfahrungen sowie die skeptische Distanz zu universalistisch auftretenden theoretischen, wissenschaftlichen, ideologischen und fundamentalistischen Positionen macht den Weg frei für einen „dritten Weg“ (Merleau-Ponty) zwischen Positivismus und Idealismus bzw. zwischen Empirismus und Rationalismus.

In der Pädagogik hat die Phänomenologie schon eine über hundertjährige Tradition. Von Anfang an werden Kernthemen aus Husserls Phänomenologie – Zeit, Leib, Welt, Anderer – systematisch mit Theorien und Praxen von Bildung und Erziehung in Bezug gesetzt. Den meisten Ansätzen gemeinsam ist der deskriptive Zugang zur pädagogischen Erfahrung, der um hermeneutische und sozialwissenschaftliche Methoden ergänzt wird. Phänomenologische Zugänge sind dabei nicht auf einen Nenner zu bringen. Sie versuchen auf unterschiedliche Weise Phänomene zu erfassen, etwa mit dem von Ference Marton entwickelten phänomenografischen Ansatz oder dem deskriptiv-interpretativen Ansatz von Amedeo Giorgi. Zu nennen sind weiterhin Clark Moustakas’ transzendentale Phänomenologie sowie Jonathan Smiths interpretative phänomenologische Analyse. Auch das von Hubert und Stuart Dreyfus entwickelte Dreyfus-Modell des stufenweisen Erlernens von Wissen und Können hat phänomenologische Wurzeln. Max van Manen hat eine phänomenologische Methode der empirischen Forschung als hermeneutische Phänomenologie entwickelt. Er betrachtet pädagogische Erfahrungen im Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind. In diesem Zusammenhang sollen die Handlungen des Erwachsenen vom pädagogischen Takt geleitet sein, den van Manen charakterisiert als „pathisches“ Verständnis: als situierte, relationale, leibliche und enaktive Formen des Erziehens.

Phänomenologische Orientierungen finden sich aktuell in der Anthropologie, der frühkindlichen Bildung, der ästhetischen und kulturellen Bildung, der Schulpädagogik und Unterrichtsforschung, sowie natürlich in der Erziehungswissenschaft. Es werden pädagogische Erfahrungen im Vollzug in ihren temporalen, sensualen und mundanen Dimensionen sowohl theoretisch als auch empirisch beschrieben und in ihren Kontexten reflektiert. Sie beziehen Raum und Zeit von Lernen und Erziehen ebenso ein wie Leib, Anderer und Kultur. Sie bearbeiten Bereiche der Lebenswelt und der Fremdheit (Wilfried Lippitz), des Umlernens und der Leiblichkeit (Käte Meyer-Drawe), der Übung und der Aufmerksamkeit (Malte Brinkmann).
Lernen und Erziehen als Erfahrung phänomenologisch zu untersuchen bedeutet, dass die konkreten leiblichen, emotionalen, sozialen und materialen Aspekte in den Mittelpunkt rücken. Das sind lebensweltliche und leibliche Erfahrungen, Emotionen und Stimmungen, wie beispielsweise Freude, Scham, Enttäuschung und Irritation ebenso wie Ekel, Neid, Eifersucht und Wut – also anthropologische, soziale, koexistenziale und kulturelle Phänomene im Lernen und Erziehen.
Die Phänomenologie ist daher als Haltung oder Stil zu bezeichnen, sich „den Sachen“ zu öffnen – so wie es „sie gibt“. Sie erfordert eine Gelassenheit, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für Anderes und Fremdes, für gelebten Sinn und für leibliche Vollzüge – eine pathische Orientierung und engagierte Passivität, die geübt sein will.

Malte Brinkmann